
Tetraktys
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Die Entwicklung der Zahlen von 1 bis 100 aus der Tetraktys und die platonischen Körper, entwickelt aus dem Tetraeder

Auf Pythagoras selbst soll die Darstellung der Tetraktys als geometrische Figur mit 10 zu einem Dreieck angeordneten Kieselsteinen (lat. calculi, von da unser Begriff Kalkulation) zurückgehen. Die Verteilung von Punkten in einem gleichseitigen Dreieck ermöglicht die Verbindung von Zahl und geometrischer Symmetrie

Speusippos (408-339 v.Chr.), Neffe Platons schreibt in `,Von den pythagoräischen Zahlen': "Es ist aber die Zehn die vollkommene Zahl, […] sie hat als erste, die diese Eigenschaft hat, und als die kleinste von denen, die diese Eigenschaft haben, eine gewisse Vollendung, und das ist ihr gewissermaßen eigen-tümlich, dass in ihr als erster unzusammengesetzte und zusammengesetzte Zahlen in gleicher Anzahl zur Erscheinung kommen." (Zit. nach Holger Ullmann https://tetraktys.de/einfuehrung-6.html )

ineinandergeschachtelte platonische Körper in einer Reihenfolge entsprechend ihrer Komplexität: Tetraeder, Würfel (Hexaeder), Oktaeder, Ikosaeder, Dodekaeder

Platon in ,Timaios' 35 über die Schöpfung: "Zuerst entnahm er [der Schöpfer] einen Teil dem Ganzen, dann das Doppelte desselben, als dritten das Anderthalbmalige des zweiten, aber Dreifache des ersten, als vierten das Doppelte des zweiten, als fünften das Dreifache des dritten, als sechsten das Achtfache des ersten, als siebenten das Siebenundzwanzigfache des ersten" - damit hat er eine Abwandlung der pythagoräischen Tetraktys formuliert, in der neue Relationen und Symmetrien enthalten sind und aus der weitere Klangintervalle ableitbar sind, die er als Grundlage der "Weltharmonik" verstand.
Pythagoras und Tetraktys
In seinem Bestreben, ewige Wahrheiten zu erkennen und zu beschreiben, bediente sich Pythagoras (~570 - ~510 v.Chr.) der Mathematik. Diese "heilige" Wissenschaft betrachtete er als die beste Methode, die Urprinzipien sowie die vereinigenden Kräfte des Kosmos und Konzepte wie Gleichheit, Verschiedenartigkeit und Veränderlichkeit zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen. Dieser Auffassung nach folgt die gesamte Schöpfung numerischen Regeln und Relationen, die in der Aufaddierung der ersten vier Zahlen zur Zehn (Tetraktys, gr. τετρακτύς tetra=4) enthalten sind: der perfekten Zahl, die alle restlichen bereits in sich trägt.
5=4+1, 6=4+2, 7=4+3, 8=4+3+1, 9=4+3+2, 10=4+3+2+1
Die Zahlen gelten den Pythagoräern daher als Grundbaustein: "Alles ist Zahl". Diesem Glaubenssatz lag insbesondere die Beobachtung zugrunde, dass die musikalischen Intervalle auf Zahlenverhältnissen beruhen und Zahl daher zugleich Klang ist:
C D E F G A H C
1/1 9/8 5/4 4/3 3/2 5/3 15/8 2/1
In der Tetraktys sind Prim (1/1), Oktav (2/1), Quint (3/2) und Quart (4/3) enthalten, die Intervalle, die unser Gehör als besonders harmonisch empfindet. Gleichzeitig erkannte Pythagoras diese Zahlenverhältnisse in den Umlaufzeiten der Planeten, die der damaligen Vorstellung nach an Sphären (Kugeln aus kristallinem Material) im All geheftet waren und die bei ihrer Bewegung ihrer Umlauffrequenz entsprechende Töne erzeugen mussten. Ein Intervall hatte also dreifache Realität: Als Zahlenverhältnis in der Tetraktys, in der Schwingung von Saiten und in der Umlauffrequenz von Himmelskörpern ("Weltharmonik").
Die ältesten schriftlichen Zeugnisse stammen von Philolaos (um 450 v.Chr.). Nach ihm ist alles für uns Erkennbare notwendigerweise mit einer Zahl verknüpft, denn das sei eine Voraussetzung für gedankliches Erfassen. Philolaos ist der älteste, die Tetraktys erwähnende Text zuzuschreiben: οὐ μὰ τὸν ἁμετέρᾳ κεφαλᾷ παραδόντα τετρακτύν, παγὰν ἀενάου φύσεως ῥιζώματ᾽ ἔχουσαν (Nein, bei demjenigen, der unserem Denken die Vierheit schenkt, Quelle und Wurzel der ewigen Natur).
Die Pythagoräer betrachteten die Tetraktys als konstitutiv für den Aufbau der Zahlen und der Welt
- In den elementaren Zahlen 1 bis 4 (eigentliche Tetraktys)
- In Zahlenfolgen wie die der Dreieckszahlen (Aufaddieren der natürlichen Zahlen): Σ(1..1)=1, Σ(1..2)=3, Σ(1..3)=6, Σ(1..4)=10. Die Zeichnung der Tetraktys als Punktdreieck aus 1,2,3,4 enthält somit die ersten vier Dreieckszahlen (1,3,6,10).
- Im Aufbau geometrischer Formen: 1 - Punkt (Dimension 0), 2 - Strecke (Dimension 1), 3 - Dreieck (Dimension 2), 4 -Tetraeder (Dimension 3)
- Übertragen wurde die Bedeutung der Tetraktys (z.B. durch J.Reuchlin, J.G.Herder) auf den Namen des Schöpfers aus der hebräischen Bibel (Jahwe, Tetragramm יהוה ), dessen "unaussprechlicher" Namen vier Konsonanten enthält (jod י, he ה, waw ו, he ה).
Aus dem Tetraeder gehen in weiteren vier Schritten die restlichen platonischen Körper (umhüllt von Dreiecken, Vierecken oder Fünfecken gleicher Kantenlänge) hervor. Der Würfel hat 4 Ecken mit dem Tetraeder gemeinsam. Die übrigen 4 Ecken erheben sich aus den Mittelpunkten der 4 Flächen des Tetraeders. Die 6 Ecken des Oktaeders erheben sich aus den Mittelpunkten der 6 Flächen des Würfels. Die 12 Ecken des Ikosaeders erheben sich aus den Goldenen Schnittpunkten der 12 Kanten des Oktaeders. Die 20 Ecken des Dodekaeders erheben sich aus den Mittelpunkten der 20 Flächen des Ikosaeders. Dieses Hervorgehen aus etwas, das gleichsam schon im Vorhandenen angelegt ist (Emergenz), ist Faszinosum der Wissenschaft und sein Nachweis Anreiz der Forschung seit der Antike bis heute.
Zahlen leisten unterschiedliche Dienste: Quantität erfassen (zählen und messen), Verhältnis erfassen (vergleichen und ordnen), Entwicklung erfassen (Zahlenreihe und Prozess), Lage erfassen (identifizieren, verorten - Telefonnummer, Personalnummer, Koordinaten). Von diesen vier Aspekten betonten Pythagoras und seine Anhänger in der Antike bis zum Hochmittelalter den zweiten, den Ordnungsaspekt.
Platon (428-348 v.Chr.) folgt in seiner Philosophie dem Pythagoras in seiner Wertschätzung der Mathematik hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Erfassung der Grundlagen der Welt. Er betrachtet die Dinge der Welt, die unseren Sinnen zugänglich sind, als schwache undeutliche Abbilder von Urformen die der Welt des Idealen zugehören. Die Betrachtung der Dinge in Klarheit erfordert, über die Sinne hinauszugehen und damit den Einsatz des Verstandes. Hierbei ist die Mathematik das Werkzeug, das das Vordringen des Geistes zum idealen Urbild ermöglicht. Bloße Erfahrung ist ihm suspekt: "Bevor wir anfangen zu sehen und zu hören und die anderen Sinne zu gebrauchen, müssen wir ein Wissen haben von der Gleichheit an sich, was sie ist, wenn wir die in der Wahrnehmung gegebenen gleichen Dinge dazu in Beziehung setzen wollen" (Phaidon 75 b)
"Geometrie ist die Erkenntnis des immer Seienden", formuliert Platon knapp und pointiert im ,Staat' (527b). Die Legende besagt er habe über den Eingang zu seiner Akademie die Warnung gesetzt: "Es trete niemand hier ein, der der Geometrie unkundig ist."

Tetraktys im sogenannten Rosenfenster (1332/1333) der Katharinenkirche in Oppenheim

Phythagoras mit Glocken und darauf aufgetragenen Zahlen, die Frequenzverhältnisse andeutend. Noch bis ins Mittelalter orientierte sich die Musik an den schon von den frühen Pythagoräern aus der Tetraktys abgeleiteten Intervallen. Z.B. kannten die Gregorianischen Choräle lediglich die Grundtöne der Pythagoräischen Stimmung CDEFGAH.
Abb: Theorica musicae, Franchino Gaffurio 1492

In Raffaels Gemälde "Die Schule von Athen" (1510/11) ist dargestellt, wie die Pythagoräer musikalische Intervalle aus der Tetraktys ableiteten (die Brüche gebildet aus 1,2,3,4 mit 2 erweitert ergeben Brüche aus 2,4,6,8, mit 3 erweitert aus 3,6,9,12 und damit die Intervalle Prim (1:1), Sekund (9:8), Quart (4:3, 8:6, 12:9), Quint (3:2, 9:6, 12:8) und Oktav (2:1, 12:6). Erst ab 1270 sind Tasteninstrumente mit 12 Tasten nachgewiesen, die aber nach dem pythagoräischen Verfahren in reinen Quinten gestimmt wurden, was nicht alle uns heute geläufigen 12 Dur- und Molltonarten gefällig anhören ließ. Erst der Kompromiss der 1691 eingeführten wohltemperierten Stimmung machte alle auf der Zwölftonreihe möglichen Tonarten spielbar.

Keplers Schalenmodell der Planetensphäre: Für die in einer von ihm ermittelten Reihenfolge angeordneten platonischen Körper ergaben sich jeweils Umkugeln für einen bestimmten Körper - alle seine Ecken berührend -, die gleichzeitig Inkugeln für den nächsten Körper waren -alle seine Flächen berührend. Wie Kepler die Zuordnung der Platonischen Körper zu den Planetenbahnen vorgenommen hat, zeigt die folgende Abbildung. Sie zeigt aber auch, dass sein Modell nur eine grobe Annäherung an die Realität ist. Würde man ausgehend vom Bahnradius des Merkur die Bahnradien der übrigen Planeten nach dem Verhältnis von Um- zu Inkugelradius der platonischen Körper festlegen, so dürfte Saturn nur auf einem Radius von 5,56 AE (statt 9,54 AE) kreisen.


Die Planetenbahnen in Keplers Schalenmodell


Erdbahn und Venusbahn. Die Umlaufzeit der Erde beträgt 365 Tage (8•5•9), die der Venus 225 Tage (5•5•9). Dem entspricht ein Frequenzverhältnis ('Intervall') von 8:5 (in der gleichen Zeit wie die Erde 5mal umläuft, läuft die Venus 8mal um). Lässt man nun je einen Punkt auf der Erdbahn und auf der Venusbahn um eine der Eigenfrequenz entsprechende Bogenlänge vorrücken und verbindet nach jedem Vorrücken die beiden Punkte, so bilden die Strecken nach und nach das abgebildete Muster. Wir können die Sphärenharmonie, die sich die Pythagoräer und Kepler vorstellten zwar nicht hören, aber hier können wir sie sehen. Wie Saiten über die Frequenzen ihrer Schwingungen Klang erzeugen, so erzeugen hier die Planeten aus ihrer Umlauffrequenz Symmetrie.

Diagramm aus der Teilchenphysik mit der Struktur der Tetraktys:
Aus der Ausprägung von 4 Quantenzuständen (Strangeness, Hyperladung, Ladung und Isospin) werden hier 10 Teilchen (Baryonen) identifiziert die aus je 3 Quarks vom Typus down, up oder strange aufgebaut sind.
Die Wirkgeschichte der Tetraktys
Die Ideen Pythagoras' und seiner Jünger lebten vor allem in der Spätantike wieder auf, z.B. mit dem Neuplatonismus, wirken aber weiter bis auf den heutigen Tag. Im Mittelalter wurden vor allem im Bau der gotischen Kathedralen mathematische Verfahren und Zahlensymbolik angewendet. Die Mathematik gewann hohen Stellenwert.
Roger Bacon (Franziskanermönch, 1214 - 1294, in ´,Opus maius'): "Alle Dinge des Himmels können nur durch Quantitäten erfasst werden, wie in der Astronomie ganz offensichtlich. Über Quantitäten aber handelt die Mathematik. Auch hängt die Kraft aller logischen Operationen von der Mathematik ab. [...] Die Erkenntnis der mathematischen Gegenstände ist uns gewissermaßen angeboren. Sie gehen also aller Erkenntnis und Wissenschaft voraus, [...] so ist sie die erste aller Wissenschaften. Sie erst ermöglicht es uns, wissenschaftlich zu arbeiten. [...] Nur in der Mathematik gelangen wir zur vollen, irrtumslosen Wahrheit, zu einer Gewissheit ohne Irrtum. [...] Nur mit Hilfe der Mathematik kann man wirklich wissen und alle anderen Aussagen verifizieren, denn in jeder Wissenschaft ist nur so viel an Wahrheit enthalten, wie in ihr Mathematik steckt. [...] Nachdem ich also gezeigt habe, dass man in der Philosophie nur etwas wissen kann, wenn man in der Mathematik Bescheid weiß, und Theologie nicht ohne Philosophie verstanden werden kann, folgt, dass jeder Theologe Mathematik beherrschen muss. Der Theologe muss ausgezeichnet über die geschaffenen Dinge orientiert sein, das aber kann er nicht ohne Mathematik. Die Mathematik kommt dem göttlichen Denken am nächsten."
Im Übergang vom Mittelalter zur Renaissance griff Nikolaus Cusanus (1401-1464), Theologe, Philosoph Mathematiker und gescheiterter Reformator erneut das Gedankengut von Pythagoras und Platon auf und integrierte es in die christliche Theologie. Giordano Bruno (1548-1600): "Hätte nicht das Priesterkleid sein Genie da und dort verhüllt, ich würde anerkennen, dass er [Cusanus] dem Pythagoras nicht gleich sei, sondern ein Größerer …"
Cusanus bezieht aus der Mathematik Metaphern zur Beschreibung des Göttlichen. "Und es ist nicht wahr, dass die erste Gewissheit in der Mathematik herrscht, wenn wir nicht hinzufügten: in Bezug auf das, was wir durch den Verstand berühren." (nota marg.in Cod. Cus. 184, fol. 12). Cusanus setzt das Spiel der Erzeugung von Zahlen aus 4 Elementen, wie Pythagoras und Platon es betrieben haben, fort. "Denn wie 1, 2, 3, 4 den geordnetsten Fortschritt der allgemeinen Zahl bedeutet, der gegeben werden kann, so ist sie der des besonderen; die Multiplikation der Zwei ergibt nämlich ebenso wie die Addition der Einheit zu drei vier. Der Quaternar [lat. für Tetraktys] geht also ganz ordnungsgemäß aus diesen hervor. Solches ist in keinen anderen vier Zahlen zu finden. Ebenso gibt es zum Zehner des Vierers, das heißt zu vierzig, keinen geordneteren Fortschritt als 1, 3, 9, 27. Du kannst es daran erproben, daß bei der wechselseitigen Subtraktion und Addition dieser vier Zahlen alle Zahlen einzeln bis vierzig erreicht werden, so wie bei der ersten Progression durch Kombination der vier Zahlen alle Zahlen bis zehn entstehen." (de coniecturis XVI) Er greift damit sowohl die Tetraktys des Pythagoras als auch die Platons (s.o.) auf und vereint beide, indem er aufdeckt, dass mit letzterer ein weiteres System zur regelhaften Zahlkonstruktion verbunden ist:
5=9-3-1, 7=9-3+1, 16=27-9-3+1, 20=27-9+3-1, 34=27+9-3+1, 37=27+9+1, 40=27+9+3+1 (Beispiele).
Weitere Zahlkonstruktionssysteme mit vier Elementen als das ebenfalls in Platons Tetraktys dargestellte und nur bis 15 führende System aus 1, 2, 4, 8 gibt es nicht. Wie bei der ersten Tetraktys mit 10 die Grenze für Bestimmung von Zahlen durch Addition und Subtraktion von je höchstens einer aus 1, 2, 3, 4 erreicht ist, so ist hier 40 die Grenze für Terme mit 1, 3, 9, 27.
Erst ab dem frühen 17. Jahrhundert wurde die Mathematik bewusst als Werkzeug eingesetzt um quantitative Kenntnisse über die Natur zu erarbeiten und Messdaten zu deuten.
"Wo Materie ist, dort ist auch Geometrie." — "Die Geometrie ist vor der Erschaffung der Dinge, gleich ewig wie der Geist Gottes selbst und hat in ihm die Urbilder für die Erschaffung der Welt geliefert." (Johannes Kepler, 1571–1630, in ,Harmonices Mundi')
Kepler bekannte sich nachdrücklich zur pythagoräischen Tradition und versuchte sie zu erneuern, indem er ihre Idee von durch die Himmelskörper in ihren Umläufen erzeugten Klänge auf sein heliozentrisches Modell übertrug. Er sah die Umlaufbahnen der ihm bekannten Planeten in die ineinander geschachtelten platonischen Körper eingepasst. "Wie kommt es zur Sechszahl der Wandler, wie zu dem Abstand dieser Gestirne, warum ist des Jupiters Laufbahn vom Mars so weit entfernt, da im Äußersten beide ? Nimm Pythagoras hin, er lehrt's mit seinen fünf Körpern. Zwischen Saturn und Jupiter steht ein Würfel so, dass die Innenfläche der Saturnsphäre die dem Würfel umschriebene, die Außenfläche der Jupitersphäre die eingeschriebene Kugel ist. Ebenso steht zwischen Jupiter und Mars ein Tetraeder, zwischen Mars und Erde das Dodekaeder, zwischen Erde und Venus das Ikosaeder, zwischen Venus und Merkur das Oktaeder." Er postulierte: 1. Die Umlauf-frequenzen der Planeten entsprechen Tönen, ihr Verhältnis Klangintervallen. 2. Die Bahnradien sind durch ineinandergeschachtelte platonische Körper festgelegt. "Die himmlischen Bewegungen sind nichts anderes als ein ununterbrochener mehrstimmiger Gesang, der nicht vom Ohr, sondern vom Verstand zu erfassen ist; eine Musik, die sich durch disharmonische Spannungen, durch Synkopen und Kadenzen gleichsam zu gewissen, vorherbestimmten sechsstimmigen Kadenzen hinbewegt und dadurch Wegmarken im unermesslichen Fluss der Zeit setzt." Anders aber als Platon vertraute er auf Beobachtung und Messung. Sein Schalenmodell lehnte er später als unzureichend genau ab und nahm sogar Abschied von der Forderung, die Planeten müssten sich auf der Idealform Kreis bewegen und wies nach, dass ihre Bahnen elliptisch sind. Da sich die Planeten auf Ellipsenbahnen bewegen und damit sich einmal im Perihel (P sonnennächster Bahnpunkt), ein andermal im Aphel (A sonnenfernster Bahnpunkt) bewegen, berechnete Kepler aus der maximalen und der minimalen Geschwindigkeit das jedem Planeten eigene Intervall.
Erde Mars Saturn Jupiter Venus Merkur
27/28 5/6 9/10 9/10 80/81 3/4
Vom Himmel (Astronomie und Metaphysik) holt Galileo Galilei (1564–1642) die Mathematik auf die Erde, d.h. er setzt sie als Werkzeug der Naturphilosophie (Physik) ein: "Mathematik ist das Alphabet, mit dessen Hilfe Gott das Universum beschrieben hat."
"[In meinen Werken] wird aus unzähligen Beispielen zu begreifen sein, was der Nutzen der Mathematik für das Urteil der Naturwissenschaften ist, und wie unmöglich es ist, korrekt zu philosophieren ohne die Führung der Geometrie, wie es der weise Grundsatz Platons besagt."
René Descartes (1596-1650): "Auf unserer Suche nach dem unmittelbaren Weg zur Wahrheit sollten wir uns nicht mit Dingen abgeben, über die wir keine mit den Beweisen der Arithmetik und Geometrie vergleichbare Gewissheit erlangen können."
Albert Einstein (1879-1955): "Nach unserer bisherigen Erfahrung sind wir zum Vertrauen berechtigt, daß die Natur die Realisierung des mathematisch denkbar Einfachsten ist." Aber er erkennt ein Rätsel: "Wie ist es möglich, daß die Mathematik, letztlich doch ein Produkt menschlichen Denkens unabhängig von der Erfahrung, den wirklichen Gegebenheiten so wunderbar entspricht?"
Werner Heisenberg (1901-1976, in ,DerTeil und das Ganze'):
"… seit der berühmten Arbeit von Planck aus dem Jahre 1900 nannte man solche Forderungen Quantenbedingungen. Und diese Bedingungen brachten eben jenes merkwürdige Element von Zahlenmystik in die Atomphysik, von dem vorher schon die Rede war. Gewisse aus der Bahn zu berechnende Größen sollten ganzzahlige Vielfache einer Grundeinheit, nämlich des planckschen Wirkungsquantums sein. Solche Regeln erinnerten an die Beobachtungen der alten Pythagoräer, nach denen zwei schwingende Saiten dann harmonisch zusammenklingen, wenn bei gleicher Spannung ihre Längen in einem ganzzahligen Verhältnis stehen."
Ein Beispiel dafür: Die Hauptenergieniveaus der Elektronen in der Atomhülle (Hauptquantenzahl) füllen sich bis zur vierten Hauptquantenzahl wie folgt auf: 2, 8, 18, 32. In der ersten Elektronenschale kann es maximal zwei Elektronen geben, in der zweiten 8, in der dritten 18, in der vierten 32. Es sind die doppelten der Quadrate der ersten vier Zahlen (2 x 1² ,2 x 2² , 2 x 3² , 2 x 4² ). Ab der vierten Schale sind die Zahlen wieder rückläufig. Die voll besetzte fünfte Schale kann maximal 32 Elektronen fassen, die sechste 18 und die siebte nur noch 8. Damit ist festgestellt, dass der Aufbau der Atomhülle mit der Struktur der Tetraktys verbunden ist.
"Zum anderen hat Werner Heisenberg immer wieder gern die gymnasiale Reminiszenz erzählt, wie er als Schüler Platons ,Timaios' im Urtext las und an dieser Stelle, bei der Konstruktion der Materie in Form der regulären Körper, stutzte und aufhorchte - bis er dann sehr viel später in der ganz neuartigen Auffassung moderner Atomphysik von der Materie Platons Intention erfüllt fand: Materie nicht als eigentlich materielle, tote Brocken, sondern als mathematische Formung des Raumes. So kann sich selbst ein moderner Physiker noch in gewissem Sinn als Platoniker empfinden." (Burkert, Walter Konstruktion und Seinsstruktur: Praxis und Platonismus in der griechischen Mathematik, 1982, S. 131)
"Die Neugier verlangt, dass wir fragen, dass wir versuchen zu kombinieren und versuchen, die Vielfalt der Gesichtspunkte vielleicht als Ergebnis des Zusammenwirkens einer relativ geringen Anzahl elementarer Dinge und Kräfte zu verstehen, welche in einer unbegrenzten Vielfalt von Kombinationen wirken." Richard Feynman (1918-1988), Vorlesungen über Physik. Bd. 1, Teil 1, S.2